Die Moralischen Briefe an Lucilius von Seneca

Moralischen Briefe

Moralischen Briefe an Lucilius von Seneca – Leseprobe aus Band I von II der kompletten Neuübersetzung

Hier findest du eine Leseprobe meines ersten Bandes der vollständigen Neuübersetzung von Senecas moralischen Briefen an Lucilius. Ich habe mich für den 22. Brief entschieden, weil er nicht nur zeigt, wie Seneca einerseits anspruchsvoll schreibt, andererseits schnell zum Punkt kommt. Dieser Brief enthält viele gute Gedanken und stoische Idee – etwa das berühmte Memento Mori. Aber er ist eben auch – und das zeichnet Seneca meiner Meinung nach aus – an die echte Realität angelehnt. „Life is messy“, „das Leben ist unordentlich, chaotisch“ – Seneca hatte das schon immer erkannt und in seinen moralischen Briefen dokumentiert und analysiert. Alle akademische Theorie nützt wenig, wenn uns nicht klar ist, dass unser leben uns vor immer neue Herausforderungen stellt, die wir oft spontan meistern müssen. Viel Spaß beim Lesen der moralischen Briefe!

PS

Das Buch „Die vollständigen moralischen Briefe an Lucilius“ von Seneca bekommst du hier.

Guido Bellberg

22. Über die Zwecklosigkeit halbherziger Maßnahmen

Mittlerweile verstehst du, dass du dich von diesem protzigen und verkommenen Streben zurückziehen musst, aber du möchtest immer noch wissen, wie dies erreicht werden kann. Es gibt Dinge, die kann man nur jemandem erklären, der gerade anwesend ist. Der Arzt kann die richtige Zeit zum Essen oder Baden nicht in einem Brief verschreiben, er muss den Puls fühlen. Es gibt ein altes Sprichwort über Gladiatoren – nämlich dass sie ihren Kampf [erst] im Ring planen, während sie aufmerksam beobachten. Etwas im Blick des Gegners, eine Bewegung seiner Hand, sogar eine leichte Biegung seines Körpers, ist ein Warnsignal.

Wir können allgemeine Regeln aufstellen und schriftlich festhalten, was normalerweise getan wird oder getan werden sollte. Diese Ratschläge können wir nicht nur unseren abwesenden Freunden geben, sondern auch zukünftigen Generationen. In Bezug auf die zweite Frage jedoch – wann oder wie dein Plan ausgeführt werden sollte – wird dir niemand langfristigen Rat erteilen. Wir müssen uns in der tatsächlichen Situation beraten.

Du musst nicht nur körperlich anwesend sein, sondern auch wach im Geist, wenn du aus der flüchtigen Gelegenheit Nutzen ziehen möchtest. Sieh dich entsprechend nach einer Gelegenheit um, dich von deinen Geschäftspflichten zu befreien. Falls du sie siehst, ergreife sie und widme dich ihr mit all deiner Energie und Kraft.

Hör genau auf die Meinung, die ich dir anbiete: Ich glaube, du solltest dich entweder von dieser Art der Existenz zurückziehen oder aber ganz von der Existenz. Aber ich bleibe ebenfalls dabei, dass du einen sanften Weg gehen solltest, sodass du den Knoten, den du beim Binden so verpfuscht hast, eher löst, als ihn zu durchtrennen – unter der Maßgabe, dass du ihn, falls es keine andere Möglichkeit zum Lösen gibt, tatsächlich durchtrennst. [1] Kein Mensch ist so mutlos, dass er bevorzugt, ewig in der Schwebe zu hängen, als ein für alle Mal zu fallen.

In der Zwischenzeit – und das ist von äußerster Wichtigkeit – hemme dich nicht selbst. Sei zufrieden mit dem Geschäft, zu dem du dich herabgelassen hast – oder in das du hineingeraten bist, wie du es vorziehst, die Leute denken zu lassen. Es gibt keinen Grund, warum du dich anstrengen solltest, noch weiter aufzusteigen. Falls du das tust, verlierst du alle Entschuldigungsgründe, und die Menschen werden erkennen, dass es kein Hineingeraten war. Die übliche Erklärung, die die Menschen anbieten, ist falsch: „Ich wurde dazu verpflichtet, geh davon aus, dass es gegen meinen Willen war, ich musste es tun.“ Aber niemand ist gezwungen, mit Höchstgeschwindigkeit nach Wohlstand zu streben, es ist bedeutsam, damit aufzuhören – selbst wenn man keinen Widerstand leistet –, anstatt eifrig nach der Gunst des Schicksals zu streben.

Wirst du verärgert über mich sein, wenn ich dich nicht nur berate, sondern auch andere herbeirufe, um dich zu beraten, weisere Köpfe als mich? Menschen, denen ich gewöhnlich jedes Problem vorlege, über das ich nachdenke? Lies den Brief von Epicurus zu dieser Angelegenheit, den er an Idomeneus richtete. Der Schreiber bittet ihn, sich so schnell zu beeilen wie möglich und den Rückzug anzutreten, bevor ein stärkerer Einfluss dazukommt, der ihm die Freiheit nimmt, sich zurückziehen zu können.

Aber er fügt auch hinzu, dass man nichts versuchen sollte außer zu der Zeit, in der es angemessen und passend versucht werden kann.[2] Wenn die lang ersehnte Gelegenheit da ist, lass ihn [den Menschen] aufstehen und handeln. Epicurus verbietet uns zu dösen, wenn wir unsere Flucht planen. Er zeigt uns die Hoffnung auf sichere Erlösung selbst aus den härtesten Prüfungen, vorausgesetzt, dass wir nicht zu voreilig sind und auch nicht zu zögerlich, wenn die [richtige] Zeit da ist. [3]

Nun, ich nehme an, du suchst außerdem nach einem stoischen Wahlspruch. Es gibt wirklich keinen Grund, warum dir jemand diese Schule[4] wegen ihrer Unbesonnenheit madig machen sollte, in Wahrheit ist ihre Vorsicht größer als ihr Mut. Du erwartest von der Stoa vielleicht Worte wie diese: „Es ist niederträchtig, unter einer Last zusammenzuzucken. Ring mit den Pflichten, die du einst übernommen hast. Kein Mensch ist mutig und ernsthaft, wenn er Gefahren vermeidet, wenn sein Geist nicht gerade an der eigentlichen Schwierigkeit seiner Aufgabe wächst.“

Worte wie diese wirst du wohl tatsächlich zu hören bekommen, wenn nur deine Ausdauer einen Zweck haben soll, der es wert ist. Wenn du nur nichts zu tun oder zu erleiden haben wirst, was eines guten Menschen unwürdig ist. Nebenbei bemerkt, ein guter Mensch wird seine Zeit nicht mit niederer und entehrender Arbeit verschwenden oder geschäftig sein, nur um geschäftig zu sein. Wie du dir vorstellen kannst, wird er sich auch nicht so in ehrgeizige Vorhaben verstricken, dass er ständig ihr Kommen und Gehen[5] ertragen muss. Nein, wenn er die Gefahren, Ungewissheiten und Risiken erblickt, die ihn einst umhergeworfen haben, wird er sich zurückziehen – nicht dem Feind den Rücken zukehren, sondern sich Schritt für Schritt in eine sichere Position zurückfallen lassen.

Vor dem Geschäft jedoch, mein lieber Lucilius, ist es leicht, zu fliehen, wenn du nur den Lohn des Geschäfts verachtest. Wir werden von Gedanken wie diesen von der Flucht abgehalten: „Was nun? Soll ich diese großartigen Aussichten hinter mir lassen? Soll ich genau zur Erntezeit abreisen? Soll ich keine Sklaven mehr an meiner Seite haben? Kein Gefolge für meine Sänfte? Keine Menschenmenge in meinem Wartezimmer?“

Deshalb verlassen Menschen solche Vorteile nur ungern. Sie lieben die Belohnungen der Mühsal, aber verfluchen die Mühsal selbst.

Männer klagen über ihre Ambitionen, wie sie über ihre Geliebte klagen. In anderen Worten, wenn du ihre wahren Gefühle durchforschst, findest du keinen Hass, sondern Zankerei. Erforsche den Geist derer, die schlecht über das sprechen, was sie sich gewünscht haben, die davon reden, den Dingen zu entkommen, ohne die sie nicht auskommen können, und du wirst begreifen, dass sie aus freiem Willen in einer Situation verweilen, von der sie behaupten, dass sie sie schwer und erbärmlich finden.

So ist es, mein lieber Lucilius, es gibt wenige Menschen, die von der Sklaverei festgehalten werden, aber viele, die an der Sklaverei festhalten.

Falls du jedoch beabsichtigst, dieser Sklaverei zu entkommen, falls Freiheit in deinen Augen wirklich erstrebenswert ist und wenn du dir zu diesem einen Vorsatz Rat suchst, damit du das Glück haben kannst, diesem Vorsatz ohne ständige Ablenkungen nachzugehen, wie können alle in der Gemeinschaft stoischer Denker deinen Kurs nicht billigen? Zeno, Chrysippus und all die anderen geben dir Ratschläge, die gemäßigt, ehrenhaft und angemessen sind.

Aber wenn du dich ständig umdrehst und Ausschau hältst, um zu sehen, wie viel du mitnehmen und wie viel Geld du behalten kannst, um dich für dein privates Leben[6] auszustatten, wirst du niemals einen Ausweg finden. Kein Mensch kann an Land schwimmen und sein Gepäck mitnehmen. Erhebe dich mit der Gunst der Götter zu einem höheren Leben, aber lass es keine solche Gunst sein, wie sie die Götter den Menschen geben, wenn sie ihnen mit freundlichen und liebenswürdigen Gesichtern großartige Schlechtigkeiten bescheren, dadurch gerechtfertigt, dass diese ärgerlichen und quälenden Dinge ja nur die Antwort auf Gebete sind.

Ich habe gerade das Siegel auf diesen Brief gesetzt, muss es aber wieder brechen, damit er mit seinem üblichen Beitrag zu dir gelangen kann, indem er noch einen noblen Satz enthält. Und siehe da, hier ist einer, der mir in den Sinn kommt und von dem ich nicht weiß, ob seine Wahrheit oder seine edle Anmutung wertvoller ist. „Wer hat ihn gesprochen?“, fragst du. Epicurus war es, denn ich eigne mir immer noch die Habseligkeiten anderer Menschen an.

Die Worte lauten: „Jeder scheidet so aus dem Leben, als wäre er erst kürzlich eingetreten.“ Bei allen, die du in einem unachtsamen Moment erwischst, egal ob jung, alt oder im mittleren Alter, wirst du feststellen, dass sie alle gleichermaßen Angst vor dem Tod und gleichermaßen eine Unkenntnis des Lebens haben. Niemand hat etwas fertiggestellt, weil wir alle unsere Aktivitäten immer wieder in die Zukunft verschieben. Kein Gedanke in dem obigen Zitat freut mich mehr, als dass er alte Menschen als Säuglinge verspottet.

„Niemand“, sagt er, „verlässt diese Welt anders als jemand, der gerade erst geboren wurde.“ Das ist nicht wahr, denn wir sind im Tode schlimmer, als wenn wir geboren werden, aber das ist unsere Schuld und nicht die der Natur. Die Natur sollte uns ausschimpfen und sagen: „Was soll das? Ich habe dich ohne Wünsche und Ängste auf die Welt gebracht, frei von Aberglauben, Verrat und den anderen Flüchen. Geh hinaus, wie du warst, als du eingetreten bist!“

Ein Mensch hat die Botschaft der Weisheit empfangen, wenn er so sorgenfrei sterben kann, wie er es bei seiner Geburt war. Aber so wie es jetzt ist, bestehen wir nur noch aus Geflatter vor dem gefürchteten Ende. Unser Mut verlässt uns, unsere Wangen erbleichen, unsere Tränen fallen vergebens. Aber was ist niederträchtiger, als sich an der Schwelle des Friedens zu fürchten?

Allerdings ist der Grund dafür der, dass wir all unserer Güter beraubt worden sind, wir haben die Fracht unseres Lebens abgeworfen und sind in Not. Denn kein Teil ist in den Laderaum gepackt worden, alles wurde über Bord gehievt und ist davongetrieben. Die Menschen kümmern sich nicht darum, wie nobel sie leben, sondern nur wie lange – obwohl es in der Macht eines jeden Menschen liegt, nobel zu leben, aber in der Macht keines Menschen, lange zu leben. Lebe wohl.


Fußnoten dieses moralischen Briefes:

[1] Im Sinne von „dein Leben beendest“.

[2] Wenn also die Zeit reif und günstig für das Vorhaben ist.

[3] Erneut eine Anspielung auf Selbstmord.

[4] Der Stoiker.

[5] Wörtlich „Ebbe und Flut“.

[6] Es ist wohl der Ruhestand gemeint.