Warum Stoizismus?

Guido Bellberg beantwortet die Frage, warum Stoizismus?

Die Stoa als Teil unseres gemeinsamen westlichen Erbes

Meine Meinung ist klar: Stoizismus ist die hellenistische Philosophie und Lebensweise, die vielleicht am besten in unsere moderne Zeit passt. Je länger ich mich mit dem Thema beschäftige, desto klarer meine ich zu erkennen, dass Stoizismus ein überaus wichtiger Teil unseres kulturellen europäischen – ja westlichen – Erbes ist. Ein Teil unserer Kultur und Geschichte, den wir in der Vergangenheit als führende Geisteshaltung für sehr lange Zeit akzeptiert hatten, der dann aber (in Christentum und Mittelalter) ziemlich in Vergessenheit geriet. Von der vielleicht führenden Geisteshaltung im antiken Rom wurde Stoizismus in Teilen vom Christentum teilweise absorbiert, manchmal verfälscht, in jedem Fall aber an den Rand gedrängt.

War Stoizismus damit tot? Natürlich nicht, Stoizismus hat ja nie aufgehört zu existieren. Die alten Stoiker wurden zu allen Zeiten gelesen und neue kamen immer wieder hinzu. Und natürlich sind viele stoische Ideen und Wahrheiten zu allen Zeiten gelebt und kommuniziert worden, aber eben eher als Einzelfragmente unter „falscher Flagge“, nicht als geschlossenes stoisches Gesamtkonzept unter dem Label „Stoizismus“. Autoren wie Seneca oder Marcus Aurelius (im Deutschen gerne Marc Aurel genannt) waren in allen Zeitaltern gefragte Ratgeber, aber sie wurden eher wie Einzelpersonen behandelt, weniger wie Stellvertreter einer gemeinsamen Sache. Dies ist einerseits schade, weil wir damit einen Teil von uns selbst verleugnet haben, gibt uns aber andererseits die Möglichkeit, wieder so etwas wie kulturelle Entdecker zu sein, wenn wir uns mit den antiken Autoren und ihren modernen, westlichen Erben beschäftigen. Die Reise in die Pholosophie als kulturelle Wiederentdeckung unserer Selbst.

Warum Stoizismus gerade aus den USA nach Europa zurückkehrt

Das neu erweckte Interesse an den ewigen Wahrheiten der alten Stoiker aus Griechenland und Rom kam vor allem über das Silicon Valley wieder zurück zu uns nach Europa. Meinungsführer ihrer Generation, etwa Tim Ferriss oder Ryan Holiday, sprechen seit Jahren offen über ihre Begeisterung für Stoizismus. Auf diese Weise wurde das Thema einer völlig neuen Zielgruppe präsentiert und ohne die jungen Amerikaner gäbe es DER WILDE STOIKER vielleicht gar nicht. Das ist gut, aber eben auch stellenweise deutlich “amerikanisiert” und mit nicht endenwollendem Storytelling versehen. Nicht jeder mag das, bei aller inhaltlichen Zustimmung.

Warum Stoizismus als philosophisches Gesamtsystem funktioniert

Stoizismus ist ein überaus flexibles philosophisches System, das in seinen drei Komponenten Ethik, Logik und Physik im Prinzip ein komplettes Weltbild ermöglicht. Flexibel vor allem deshalb, weil stoisches Denken lernfähig ist und der Stoizismus selbst nie in strengen Regelwerken und Personenkulten erstarrt ist – ein deutlicher Unterschied zu allen Religionen und auch anderen Philosophien.

Noch zu den Zeiten von Chrysippus glaubten viele Stoiker zum Beispiel, das Herz – damit ist das Organ gemeint – sei der Sitz der Seele und des Bewusstseins. Als Marcus Aurelius, der mächtigste Mann der Welt an der Spitze Roms stand und einer der einflussreichsten Stoiker seiner Zeit war, war dieser Glauben bereits längst überholt. Das änderte aber nichts an der Praxisorientierung und bedingungslosen Funktionsfähigkeit von Stoizismus. Stoizismus erlaubt Evolution – ein großer Unterschied zu den meisten anderen Philosophien oder gar Religionen.

Das stoische System enthält auch spirituelle Elemente, die zwar vielleicht esoterisch anmuten, aber auch recht gut in unsere Zeit und zu unserem wissenschaftlichen Denken passen, jedenfalls in Teilen. Es ist meine feste Überzeugung, dass man auch als Agnostiker oder Atheist hervorragend stoisch leben kann – gute Nachrichten für viele, wenn nicht die meisten von uns. 

Stoiker sind Weltverbesserer

Die Stoa, im Sinne der Gemeinschaft moderner Stoiker, ist ein Zusammenschluss motivierter Freidenker, der zu allererst einmal sich selbst und dadurch vielleicht am Ende sogar die Welt verbessern möchte. Sich selbst zu prüfen, zu verbessern und dadurch zu einem tugendhafteren und glücklicheren Leben zu gelangen, ist die Hauptaufgabe mit der wir uns beschäftigen sollten. 

Meiner Erfahrung nach bietet keine Philosophie hier bessere Ansätze als der Stoizismus. Viele seiner Ideen muten vielleicht einfach an, aber nur durch ehrliches Ausprobieren und Üben gelangen wir am Ende in den vollen Genuss der Vorteile eines stoischen Lebens. Und diese Vorteile können sich sehen lassen: Gelassenheit, Fokussierung, Moral – um nur einige Bereiche zu nennen, in denen uns das stoische System deutliche Fortschritte bringen kann.

Die moderne Welt braucht Stoizismus

Wann in der Menschheitsgeschichte wäre ein stoisches Leben angemessener gewesen als heute? Wir sind einer Flut von in der Mehrzahl sinnlosen Informationen in einer überwältigenden Vielfalt von Medienangeboten und Social-Media-Kanälen ausgesetzt. Genauer gesagt, wir setzen uns dem Ganzen selbst aus. Freiwillig. Weil es einfach ist. Aber diese Informationsflut macht etwas mit uns, vor allem mit unseren Fähigkeiten zur Selbsterkenntnis und Fokussierung. 

Ein angeblich aufregendes, perfektes und schönes Leben zu kommunizieren ist wichtiger geworden, als wirklich ein schönes Leben zu führen. Wir bekommen von allen Seiten „Verständnis“ für auch das kleinste unserer Problemchen und entrüsten uns über die Ungerechtigkeiten der Welt – aber niemand hält uns den Spiegel vor und weist uns auf die Ungerechtigkeiten hin, die wir selbst Tag für Tag begehen.

In Wahrheit sind wir alles andere als fehlerlos und entfernen uns immer weiter von unserer wahren menschlichen Natur – und der „Natur“ im stoischen Sinne. Wenn man in einem Süßigkeitenladen lebt, ist es auf Dauer sehr schwer abzunehmen. Vor allem wenn man vergessen hat, was echtes Essen ist.

Es ist meine Überzeugung, dass Stoizismus uns lehren kann, wieder klar zwischen richtig und falsch zu unterscheiden und uns selbst so zu erkennen, wie wir wirklich sind. Auf diesen Erkenntnissen können wir dann aufbauen und Schritt für Schritt ein reiferer Mensch werden, der ein immer besseres und glücklicheres Leben führt. Lasst uns gemeinsam mit dieser Reise beginnen, es ist nicht zu spät.

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