Selbsterkenntnis

Selbsterkenntnis und Stoizismus

Selbsterkenntnis – “know thyself”

„Erkenne dich selbst“ – ist ein bekanntes Motto in stoischem Denken, aber was genau bedeutet es? Ich versuche mich einmal an einer modernen und logischen Erklärung… Im Podcast sage ich ja immer, das ist für uns als stoische Reisende quasi unsere Pflicht ist, die Welt zu einem besseren Ort zu machen. Dies können wir nur erreichen, wenn wir zuallererst und vor allem uns selbst verbessern. Selbstverbesserung setzt aber natürlich Selbsterkenntnis voraus.

Wer wir sind – oder einmal waren

Das Problem, dass die meisten von uns beim Thema Selbsterkenntnis haben dürften, ist, dass wir uns selbst immer rückschauend betrachten. Unser jeweiliges Selbstbild beruht eigentlich immer auf unserer Vergangenheit, je nach Mensch auf der näheren oder sogar ferneren. Dies hilft uns bei der aktuellen Arbeit in der heutigen Welt aber wenig. Es ist extrem wichtig, eine halbwegs aktuelle Bestandsaufnahme seiner selbst zu haben. Diese können nur erreichen, indem wir uns und unserer Handlungen quasi permanent hinterfragen. Dieses Hinterfragen muss dabei ein durchaus bewusster Vorgang sein, aus stoischer Sicht also unsere Ratio mit einbeziehen.

Die perfekten Lügner

Ein weiteres Problem stellt sich schnell: viele, wenn nicht sogar die meisten, Menschen sind wohl einfach nicht in der Lage, Wahrheiten über sich selbst zu erkennen oder gar zu akzeptieren. Ohne diese Bereitschaft ist jedoch keine Selbsterkenntnis möglich. Selbst in dem glücklichen Fall, dass die Außenwelt ehrlich – und vielleicht schonungslos – mit uns spricht und uns klar unsere eigenen Stärken und Schwächen kommuniziert, müssen wir im Ende doch bereit sein, den jetzigen Stand unseres Ichs zu akzeptieren. Menschliche Affekte, nicht zuletzt die Eitelkeit und mangelnde geistige Reife, stehen echter Selbsterkenntnis diametral entgegen.

Ja, vielleicht ist die Akzeptanz unserer selbst nicht nur einer der ersten Schritte, den wir gehen müssen, sondern auch einer der schwersten. Der Schritt, der uns aus unserer Kindheit in unser Erwachsensein trägt. Denn eines ist klar: nicht alles an uns ist positiv oder gar liebenswert.

Baustellen auf zwei Beinen

Wir alle sind unfertig. Wir haben Stärken, wir haben Schwächen, aber vor allem sehr viele Baustellen, um die wir uns heute und morgen kümmern sollten. Nicht alle Menschen können es ertragen, das ins Gesicht gesagt zu bekommen. Es nützt aber nichts, „erkenne dich selbst“ ist für Stoikerinnen und Stoiker unumgänglich. Je eher wir damit beginnen, unsere unschönen, ja vielleicht sogar schlechten, Seiten klar zu erkennen und anschließend zu akzeptieren, desto eher werden wir positiv an ihnen arbeiten können. Wenn wir wie kleine Kinder ständig darauf bedacht sind, von uns selbst oder anderen gelobt zu werden, oder unser Händchen gehalten zu bekommen, können wir keine echten Stoiker sein. Als solche stellen wir uns der Wahrheit – so gut sie eben für uns erkennbar ist – schnappen uns das jeweils passende geistige oder körperliche Werkzeug, spucken in die Hände, und machen uns an die Arbeit. Dies ist auch aus ganz egoistischen Gründen sinnvoll, denn – falls ich mit meiner Annahme richtig liege – macht uns am Ende nur echtes Wachstum glücklich. Nicht das Erreichen eines Zieles, nicht das Ankommen am gewünschten Ort. Wir sind permanent im Werden begriffen, ein sich ewig änderndes System, das wir “Ich” nennen. Unsere Arbeit ist also nie zu Ende. Finden wir uns damit ab und packen wir’s an.

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© Guido Bellberg, 2022
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