Stoiker

Stoiker sollten nicht “Gedanken lesen”

Es ist lustig, wie das menschliche Bewusstsein funktioniert – und vor allem das Unbewusstsein – aber auch tragisch. Bei fast allen unseren Konflikten liegen so genannte „Missverständnisse“ zu Grunde. „Missverständnisse“ sagt uns schon, worum es eigentlich geht: ein Mensch versteht einen andern nicht und umgekehrt. Ein Problem, dem sich auch Stoikerinnen und Stoiker regelmäßig ausgesetzt sehen.

Doch wie gehen wir mit diesem Nichtverstehen um? Nun, meistens ist unsere größte Motivation, jedwede Schuld möglichst schnell und möglichst deutlich von uns zu weisen. Das ist wenig hilfreich, weil es meistens gar nicht um „Schuld“ geht, sondern um das Nichtfunktionieren von Kommunikation. Wir kommunizieren nicht wirklich, sondern aneinander vorbei.

„Nie versteht sie, was ich wirklich meine.“ „Manchmal glaube ich, er will mich überhaupt nicht verstehen.“ Sätze wie diese haben wir alle nicht nur schon tausendfach gehört, sondern auch selbst ausgesprochen – oder zumindest gedacht.

Was heißt “Verstehen”?

Wir verstehen nicht, dass der andere uns nicht versteht. Was lustig wäre, wenn es nicht zu so viel Ärger führen würde. Aber warum verstehen wir nicht, warum uns der andere nicht versteht?

Hauptsächlich, weil wir schon ganz am Anfang einen entscheidenden Fehler machen, nämlich zu denken, unser Gegenüber würde im Prinzip genauso denken, wie wir selbst. Wenn er oder sie uns dann nicht versteht, kann dies „logischerweise“ nur bedeuten, dass entweder Dummheit, Absicht oder Ignoranz vorliegen. Was aber, wenn der andere einfach ganz anders denkt als wir selbst?

“Gedankenlesen” aus Sicht eines Stoikers

Unser Bewusstsein versucht, die uns umgebende, oftmals chaotische Welt zu ordnen und für uns erträglich zu machen. Dazu gehört auch, eine Idee davon zu haben, wie der andere funktioniert. Sehr oft haben wir aber nicht den blassesten Schimmer, was in anderen Menschen wirklich vorgeht.

Um dies zu kompensieren tun wir Tag für Tag etwas, das der englische Stoiker, Mentalist und Buchautor Derren Brown in seinem exzellenten Buch „Happy“ einmal als „Mind reading“, also Gedankenlesen bezeichnet hat – und das trifft es ziemlich genau.

Jemand grüßt uns nicht so zurück, wie wir es eigentlich erwartet hätten, und schon denken wir, es läge ein Problem vor. Ein anderer nimmt uns aus Versehen die Vorfahrt, aber wir unterstellen Absicht und Dreistigkeit. Eine Kollegin reagiert nicht auf unsere E-Mail, also führt sie etwas im Schilde. Und so weiter, und so fort. Ein endloser Strom von Werturteilen und Interpretationen.

Das Problem bei diesem Gedankenlesen ist natürlich, dass wir in geschätzt neunzig Prozent der Fälle daneben liegen und uns die Dinge vollkommen falsch und viel schlimmer ausmalen als sie wirklich sind.

Stoiker und Werturteile

Stoisch betrachtet könnte man sagen, wir fügen zu unseren ersten Eindrücken unsere eigenen „Halluzinationen“ und Werturteile hinzu. Wir sehen Dinge, die nicht geschehen sind, hören Worte, die nie gesagt wurden, und verurteilen Taten, die niemand begangen hat.

Es ist, wie der Stoiker Brown richtig beschreibt, als würden wir den Film, der immer in unserem Kopf läuft, kurz anhalten, zurückspulen und uns die betreffende Szene noch einmal vorspielen – nur, dass wir sie diesmal mit einem neuen, unserem eigenen Kommentar versehen.

Wir gehen in ein bestimmtes Erlebnis – im Straßenverkehr geschnitten werden, vom Partner auf der Party stehen gelassen werden, vom neuen Date nicht zurückgerufen werden – hinein und spielen Sie uns gedanklich erneut vor – nur eben nicht neutral, sondern emotional aufgeladen.

Davon einmal abgesehen, dass unser Erinnerungsvermögen meist sowieso nicht das beste ist, wie einem jeder erfahrene Polizist, der schon einmal ein paar Zeugen befragt hat, schnell bestätigen wird, fügen wir mindestens die Hälfte der Dinge, die uns aufregen, einfach selbst hinzu – sie sind schlicht frei erfunden.

Der Film, der nun immer und immer wieder abläuft, ist eben keine Dokumentation, sondern ein dramatischer Spielfilm, der, wie es so schön heißt, auf „wahren Tatsachen beruht“, also ein mehr oder weniger komplett erfundenes Werk ist.

Das moralische “Aufladen” und die damit verbundenen Probleme

Wir versehen Dinge, die eigentlich einfach passiert sind, im Nachhinein – „Nachhinein“ kann schon auch Sekundenbruchteile später sein – mit einer moralischen Wertung. Entfernen wir nun diese moralische Wertung, wir uns schon vor Urzeiten von einem der bekanntesten Stoiker, dem römischen Kaiser Markus Aurelius, zu deutsch Marc Aurel, in seinen „Selbstbetrachtungen“ sehr deutlich empfohlen, dann verschwinden auch unsere negativen Gefühle. Wir sind endlich in der Lage, die Realität so zu erkennen, wie sie ist. Erst dann, und nur dann, sind wir auch fähig, die bestmöglichen Entscheidungen für uns selbst und andere zu treffen. Die Implikationen sind also enorm.

Was sagt Marcus Aurelius dazu?

Der stoische Kaiser und Lieblingsautor der meisten Menschen, die sich für Stoizismus interessieren, erklärte uns in seinem Selbstbetrachtungen glücklicherweise ganz konkret, wie wir den Teufelskreis der falschen Interpretationen auf sehr einfache Weise durchbrechen können:

Sage dir selbst nicht mehr als deine ersten Eindrücke berichten.

Und weiter

… halte dich immer an deine ersten Eindrücke und füge nichts aus deinem Inneren hinzu.

Dies mag am Anfang wie eine unmögliche Aufgabe erscheinen – schließlich haben wir den oben beschriebenen Ablauf jahrelang hunderte Male am Tag eingeübt – aber schon mit ein wenig Praxis merken wir, wie Wut und andere negative Gefühle an Kraft und Einfluss auf uns verlieren.

“Gut” und “schlecht” sind oft nicht hilfreich

Die meisten Situationen sind in Wahrheit nicht wirklich „schlecht“ oder „unfair“ oder „gemein“, sondern sie sind einfach – und kümmern sich nicht allzusehr um uns. Die Bewertung dieser Situationen fügen wir selbst hinzu, was glücklicherweise eben auch bedeutet, dass wir unsere Bewertungen ändern, oder idealerweise vielleicht ganz auf Bewertungen verzichten können.

Wenn wir uns die Szenen, die uns ärgern oder anderweitig emotional aufladen, nicht immer wieder in unserem Kopf abspielen und neu kommentieren, sondern eher wie einen Stummfilm betrachten und unsere Aufmerksamkeit auf Details lenken, die uns normalerweise einfach entgehen weil wir die ganze Zeit selbst „sprechen“, werden wir sehr schnell entspannter durchs Leben gehen. Ein großartiges und befreiendes Gefühl.

Der Zufall ist ein Stoiker

Bedenken wir: unser Gehirn tut sich extrem schwer damit, dem Zufall den Platz einzuräumen, den er in unserem Leben verdient. Sehr viel passiert ohne Grund und Absicht und fast keine der Kleinigkeiten, die uns ärgern, haben irgendeine Bedeutung für uns und unser Leben – zumindest mittel- oder langfristig betrachtet. Oder, anders gesagt, der Umzugswagen, der gerade die Straße blockiert, steht da nicht um dich zu ärgern. Und er verschwindet auch nicht einfach, nur weil du dich aufregst und wütend hupst.

Je weniger wir also „Gedankenlesen“; je mehr wir versuchen, die Realität so zu sehen, wie sie wirklich ist, desto einfacher wird unser Leben und desto glücklicher werden wir selbst.

Nicht von heute auf morgen, aber jeden Tag ein bisschen.

Mehr können wir nicht verlangen.

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© Guido Bellberg, 2020
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